Bevor die Nacht geht von Patrycja Spychalski

Zugegeben, ich mag durchaus (wieder) Jugendbücher - vorausgesetzt sie haben genug Tiefe, Story und/oder sind einfach nur schön geschrieben. Was fürs Herz sozusagen und/oder mit genug Humor, um mit den Protagonisten mitzufiebern oder der Geschichte in den Bann gezogen zu werden.

 

„Bevor die Nacht geht“ hat mich deshalb aus zwei Gründen angesprochen: Das Buch spielt in Berlin, meiner alten Wahlheimat und: schon der Klappentext erinnert an „Before Sunrise“ - einen wunderschönen Liebesfilm.


Da ist Kim. Sie hat das letzte Jahr Schule vor sich, ist quirlig, extrovertiert und mag ihre Heimatstadt Berlin, so wie sie tags und nachts pulsiert. 


Und da ist Jacob. Er hat gerade das Abitur in der Tasche, ist mittleres und schüchternes Kind einer spießigen Großfamilie und will nur eins: raus aus der Tristesse Berlins, rein ins bunte Leben Brasiliens.


So verschieden die beiden auch sind, sie verbindet auch so viel. Schon bei ihrer ersten Begegnung im stinkigen Waggon der S-Bahn an einem sonnigen Vormittag irgendwo zwischen Friedrichshain und Kreuzberg. Beide nehmen ihre Umwelt wahr, und schauen nicht - wie alle anderen gelangweilten Fahrgäste - auf ihr Smartphone, um die nächste Nachricht zu beantworten oder Tetris zu spielen. Vor allem nehmen sie einander wahr und spüren schon sehr früh, was es heißt miteinander verbunden zu sein, ohne sich wirklich zu kennen.


Und so kommt, was kommen muss. Erste zaghafte Annäherungsversuche, Gespräche, Smalltalk… und der Entschluss, an einer Station gemeinsam auszusteigen.


Der Besuch in einem Möbelhaus ist nur der Anfang einer gemeinsamen Erkundung durch die Stadt und des Gegenübers. Jacob mag die Stadt nicht besonders, hat die Nase voll von der Lautstärke des Großstadtlebens und will deshalb am nächsten Morgen in den Flieger nach Brasilien steigen. Weg von der Familie, weg aus dem grauen Alltagstrott. 

Für Kim gerade Herausforderung genug, ihn in den nächsten Stunden davon zu überzeugen, dass Berlin toll ist, schöne Ecken hat und jedes Mal aufs Neue besondere Momente zu bieten hat. 

Doch alles, was ihr bleibt, sind knapp 24 Stunden Zeit: Um ihm Berlin von der Sonnenseite zu zeigen und davon zu überzeugen, dass die Hauptstadt mehr zu bieten hat, als spießige Kleingärtnersiedlungen in Dahlem - Jacobs Zuhause.


Und so startet er, der Spaziergang durch die buntesten Ecken der Stadt und der Wettlauf gegen die Zeit des Abschieds… die immer knapper wird, wobei die Gefühle füreinander immer stärker werden.


Kann man sich wirklich innerhalb von 24 Stunden in jemanden verlieben? Sich einer scheinbar fremden Person so früh anvertrauen, dass man das Gefühl hat, sich nicht erst ein paar Stunden zu kennen? Und was passiert, wenn man sich nach dieser Zeit von diesem so lieb gewonnen Herzensmenschen trennen muss, weil der Alltag einen eingeholt hat und die Verpflichtungen nach Eltern, geplantem Flug und Leben rufen?


Patrycja Spychalski gelingt es mit ihrem Jugendbuch zwei Charaktere zu zeichnen, wie sie verschiedener und gleichzeitig ähnlicher nicht sein könnten. Buntes Wedding trifft auf weißpoliertes Dahlem. Neugierig, lebensfroh und quirlig auf besonnen, nachdenkend, manchmal zu erwachsen. Blond auf dunkelhaarig, Mädchenperspektive auf Jungenperspektive. Und beide irgendwie Außenseiter auf ihre Weise, gebeutelt von ihren jeweils ganz persönlichen Familienschicksalen.


Es beginnt eine Reise quer durch die eher östlichen Stadtteile der Hauptstadt, die die Abenteuerlust weckt. Bei Kim, bei Jakob und beim Leser. Die Autorin entführt zu Originalschauplätzen; sie motiviert, die Stadt (erneut) zu erkunden, mit anderen Augen wahrzunehmen - mit Sehenswürdigkeiten und Tipps, die garantiert in keinem Reiseführer stehen und auch nicht alle bekannt sind. Denn es geht um das wahre Berlin, die Vielfalt, die Liebe zum Detail, die Entschleunigung… und nicht die künstlichen Gebäude, die jeder Tourist mit der Buslinie 100 abfahren kann und danach meint, die Stadt im geschäftigen Trubel kennengelernt zu haben. 


Doch je mehr man sich auf jede neue Erkundung der beiden freut, desto wehmütiger wird man… denn eines steht fest: Die Zeit wird damit vergehen und je mehr die beiden (sich) sehen und kennenlernen, desto weniger Stunden, Minuten, Sekunden bleiben ihnen bis zum Abschied.


Das Buch ist eine ergreifende Liebesgeschichte zweier junger Menschen, die füreinander bestimmt sind… und eine Hommage an die illustre Bundeshauptstadt. 

Die Geschichte fordert auf, Dinge mit anderen Augen zu sehen, mal inne zu halten, mal die Umgebung wahrzunehmen, scheinbar Verlorenes wiederzufinden… und wertzuschätzen, dass es manchmal egal ist, wo man ist, wenn es doch nur an der Seite eines geliebten Menschen ist.


Ein sehr gelungener Berlin-Roman, der bis zur letzten Seite ein Pageturner bleibt, obwohl der Abschied immer schwerer fällt. Von den Protagonisten und damit auch vom Buch selbst. 


 

[daniela]